ein leben in
ein leben in
Leute stressen durch den Bahnhof, noch ein letzter Blick auf die Anzeigetafel, dann ab in die Unterführung und zum Gleis. Entgegen kommen entspannter gehende Personen, an der Bahnhofstrasse stoppen sie kurz, schauen links, dann rechts. Kein Bus kommt. Weiter geht’s.
Inmitten dieses Gewusels steht Roland Studer. In der Hand einen Stock, trägt eine dunkelbraune Jacke, ein Baseball-Cap und eine Brille. Auf die Anzeigetafel schaut er nicht, auch links und rechts schauen nützt ihm wenig. Roland Studer ist beinahe blind, sein Sehvermögen beträgt noch wenige Prozent. Seine Welt ist nicht bunt und scharf, sondern grau und unscharf. Studer ist mittlerweile 60, Geschäftsführer eines Geschäfts für Laborbedarf und seit vergangenem Jahr ist er Präsident des Schweizerischen Blinden und Sehbehindertenverbands (SBV). Er wohnt in Schaffhausen und ist auch in dieser Gegend aufgewachsen. An diesem grauen Freitagmorgen im Februar treffen wir uns am Schaffhauser Bahnhof. Gemeinsam begeben wir uns auf einen Spaziergang durch die Schaffhauser Altstadt. Das Ziel: Die Welt, oder in diesem Fall Schaffhausen, durch Roland Studers Augen zu sehen. Oder eben nicht zu sehen.
Immer den Leitlinien nach. Das ist das Motto am Bahnhof, sie führen uns über die Strasse, an Bussen vorbei, direkt in die Altstadt. Nach wenigen Metern sind die Linien bereits verschwunden und machen Pflastersteinen Platz. Kein optimaler Belag für einen Blindenstock, aber es gehe. Roland Studer geht in normalem Schritttempo neben mir her, vor sich der Stock, der in einem engen Radius auf dem Boden hin und her schwenkt. Diesen Stock brauchte er nicht immer, erzählt er mir während unseres Spaziergangs. «Schlecht gesehen habe ich schon immer, ich habe nie mehr als 30 Prozent gesehen. Ich konnte in der Schule auch nicht lesen, was an der Wandtafel stand. Stattdessen bin ich jeweils in der Pause nach vorn gegangen und habe mir alles ins Heft geschrieben. So aber, dass es meine Mitschüler*innen und meine Lehrperson nicht mitbekommen haben. Ich wollte einfach unbedingt in der Regelschule bleiben und nicht auf eine Spezialschule gehen», erzählt er. Trotzdem sei er Fahrradgefahren, gereist, hat eine Ausbildung gemacht, BWL studiert und führt bis heute ein eigenes Geschäft. Erst Ende zwanzig während des Studiums habe die Sehkraft merklich abgenommen. «Plötzlich habe ich gemerkt, dass ich den Text, den ich meinen Büchern mit Leuchtmarkern angestrichen habe, gar nicht mehr lesen konnte», so Studer.
Es war das erste Indiz, dass sich etwas verändert. Eine erste Operation folgte und alle paar Jahre folgte eine nächste. Roland Studer hat seit Geburt einen zu hohen Augeninnendruck, ein Glaukom, besser bekannt als Grüner Star. Durch den zu hohen Druck entstanden über die Jahre Folgeschäden. Es war deshalb schnell klar, dass Studer irgendwann nicht mehr gut genug sehen wird um selbständig zu arbeiten, gehen und zu leben. Darauf wollte er sich frühzeitig vorbereiten. «Ich habe bereits geübt mit einem Stock zu gehen, als ich ihn noch gar nicht brauchte. »
Jetzt läuft Roland Studer ziemlich locker durch die Schaffhauser Altstadt, ohne Stock würde man ihm seine Sehbehinderung kaum anmerken. Dabei sieht die Welt für ihn ganz anders aus als für mich. Während unseres Spaziergangs beschreibt er mir immer wieder, wie er die Umgebung gerade wahrnimmt. Ohne Farben, in hellen und dunklen Kontrasten. Alles ist unscharf und sein Blickwinkel ist stark eingeschränkt. In folgendem Video erklärt Roland Studer selbst, wie er die Welt wahrnimmt und ich habe versucht, dies zu visualisieren.
Nur noch wenige Prozent Sehvermögen hat Roland Studer, dennoch trägt er eine Brille. Die erfülle drei Zwecke. «Erstens: Ohne Brille fühle ich mich nackt, ich habe schon mein ganzes Leben eine Brille getragen. Zweitens: Die Brille verstärkt Kontraste ein bisschen, so kann ich diese etwas besser erkennen. Drittens: Sie ist ein Schutz. Ich laufe schnell mal in einen Ast, so sind meine Augen geschützt.» Auch die Baseball-Cap habe ihren Zweck. Sie schirmt vor blendendem Licht ab.
Erblinden ist eigentlich ein Fulltime-Job
Was ist besser: Immer schon blind/sehbehindert sein – oder es erst werden? Eine klassische Frage, so klassisch, dass ich sie nicht einmal stellen muss. Roland Studer erzählt von selbst. «Mein Nachteil ist es, dass ich weiss, was ich nicht mehr kann. Dafür habe ich den Vorteil, dass ich weiss, wie etwas daherkommt. Ich weiss wie eine Treppe aussieht oder eine Tür», erzählt Studer während wir die belebte Vordergasse hinuntergehen, «allerdings ist der Weg vom Erblinden nicht einfach. Wer plötzlich erblindet muss ganz viel lernen und gleichzeitig ist der neue Zustand eine massive psychische Belastung. Existenzängste, Freunde und Familie, die nicht wissen wie damit umgehen. Und gleichzeitig muss man neu lernen zu gehen, zu kochen, wie man ein Mail schreibt – das ist eigentlich ein Fulltime-Job.» Für Roland Studer kam das Erblinden aber schleichend, Ende zwanzig erst beschleunigte es sich rapide. Ein normales Leben wurde immer schwerer. Dennoch realisierten seine Eltern erst als er schon Mitte dreissig war, dass er schlechter sehen kann, als sie dachten. «Zum einen wollte ich nicht, dass sie es wissen, um möglichst normal aufzuwachsen. Das war das eine. Das zweite war, dass sich meine Mutter immer Vorwürfe machte wegen meiner Sehbehinderung. Sie dachte, sie habe während der Schwangerschaft ein Medikament genommen, das meine Krankheit ausgelöst hat. Es ist zwar bewiesen, dass das nicht stimmt. Dennoch machte sie sich ein schlechtes Gewissen. Und das wollte ich nicht noch verstärken.»
Wir machen Halt an der Bachstrasse, an einem Rotlicht. Roland Studer erkennt mit seinem Stock die Ampel, drückt den Knopf und hält die Hand daran. Und wartet. Vergeblich.
Nur einer von vielen Stolpersteinen, denen sehbehinderte Menschen ausgesetzt sind. Es gäbe einfache Mittel, wie ein Vibrieren oder einen Ton bei der Ampel, der ihr Leben erleichtern würde. Am Bahnhof sind Leitlinien essenziell. Aber auch, dass die Busse immer an denselben Orten anhalten. Das ist in Schaffhausen aber eben nicht so. Die städtischen Busse schliessen je nach Ankunftszeit auf, mal ist die Nummer 1 zuvorderst, mal die Nummer 4. Was kann Roland Studer in dieser Situation tun? «Die Busfahrer*innen fragen.» Und hoffen, dass es trotzdem noch auf den Bus reicht.
«Ihr habt mir hier die Leitlinien weggenommen»
Von der Bachstrasse schlendern wir weiter in Richtung Schifflände. «Hier kommt jetzt dann links eine Pizzeria, rechts die nächste, dann folgt links ein Coiffeur», zählt Roland Studer auf. Er weiss, wo diese Orte sind. Nicht weil er sie sieht, sondern weil er hier aufgewachsen ist. «Schaffhausen kenne ich, seit ich ein Kind bin. In anderen Städten brauche ich Google-Maps um mich zurechtzufinden. Mit Kopfhörern im Ohr erhalte ich die Wegbeschreibung und folge dieser. Bis auf wenige Meter genau finde ich so zum Ziel.» Dafür darf aber nichts Unerwartetes in den Weg kommen, nicht wie gerade am Freien Platz kurz vor der Schifflände. Ein rotweisses Schild mit dem Hinweis auf eine Baustelle steht dort. Inmitten der Gasse ist der Boden aufgerissen, die Blindenleitlinien sind dadurch unterbrochen. Und jetzt? Roland Studer sucht das Gespräch mit den Handwerkern.
Sensibilisierung ist wichtig. Aufmerksam sein, auch an Personen denken, die nicht die gleichen Voraussetzungen haben wie die meisten. Das können Kleinigkeiten sein: Man sollte nicht auf den Leitlinien stehen bleiben, eine Person auch mal ansprechen, ob sie Hilfe benötigt. Allerdings immer zuerst fragen, nie gleich am Arm nehmen oder ähnliches. Übervorsichtig müsse man aber auch nicht sein. «Ich merke oft, wie Leute, die mir entgegenkommen, regelrecht aus dem Weg springen oder einen grossen Bogen um mich machen», erzählt Roland Studer grinsend, «ihr könnt aber auch ganz normal an einer blinden Person vorbeigehen – ohne riesigen Sicherheitsabstand.»
Zahlreiche ungelöste Herausforderungen
Damit sind aber bei weitem nicht alle Probleme von Sehbehinderten gelöst. «Begegnungszonen sind eine grosse Herausforderung, ein offener Platz, Mischverkehr mit Passant*innen und Velos. Hier können wir uns kaum orientieren. Wir können aber lernen damit umzugehen. Ein weiterer Punkt ist: Immer wieder wird von Lichtverschmutzung gesprochen und deren Minimierung. Für sehbehinderte Personen mit einem Sehrest ist dieses Licht aber sehr wichtig zur Orientierung. Aber hier prallen verschiedene Interessen aufeinander.» Wir sind bereits auf dem Rückweg vom Freien Platz, laufen schon wieder in Richtung Bahnhof, über den Fussgängerstreifen mit der Ampel, die nicht vibriert, die Vordergasse hoch in Richtung Bahnhof. Zwischendurch pausiert Roland Studer beim Sprechen, er muss sich kurz konzentrieren. Mit dem Stock zu gehen ist anstrengend. Hätte ich nicht eine Video-Kamera in der Hand würde er ohne Stock laufen und sich an meinem Ellbogen festhalten. Das ist einfacher.
Studer bleibt mitten auf der Vordergasse stehen. «Ein viel grösseres Problem ist folgendes: Was wenn ich jetzt plötzlich aufs WC müsste?» Ich stehe neben ihm, sehe mich um. Es hat ein Kleidergeschäft, ein Café ist wenige Meter entfernt. «Ein WC zu finden ist ja schon für dich ein Problem. Aber für mich erst recht. In ein Café gehen und fragen ist für mich eine viel grössere Herausforderung. Behinderten-WCs, die mit einem Euro-Key zugänglich sind, hat es in Schaffhausen nur wenige. Hier gibt es Bedarf. Ich würde ja sogar zahlen dafür, wenn ich dafür die Möglichkeit hätte, selbständig ein WC zu finden und nutzen.» Behindertenpolitik habe in den letzten Jahren zwar starke Fortschritte gemacht, aber dennoch hapere es immer noch an der Umsetzung. Gerade digitale Angebote, selbst auf Verwaltungen, seien nicht selbstverständlich zugänglich für Sehbehinderte.
Auf unserem Spaziergang durch die Stadt nicke ich immer wieder, während Roland Studer erzählt. Erst kurz vor der Rückkehr zum Bahnhof ertappe ich mich dabei. «Bitte entschuldige, ich nicke dir die ganze Zeit bejahend zu und das bringt ja gar nichts.» Studer lacht. «Das macht selbst meine Frau bis heute. Und wir kennen uns auch schon ein paar Jahre.»
Bei den Bussen verabschieden wir uns. Das aber erst, nachdem ich mit Roland Studer seinen Bus gesucht und gefunden habe. Knapp schafft er es ins Innere des Busses, die Türen schliessen, der Bus fährt ab.
KONZEPTIONELLE ÜBERLEGUNGEN:
Wie bin ich auf diese Idee gekommen? Was ist mir nicht ganz so gelungen? Die Reflexion zu meiner Hausaufgabe finden Sie hier: